Es war ein kurzer stechender Schmerz der die Zehen meines rechten Fußes durchfuhr. Aber nun war es an mir es klaglos auszuhalten und den Blickkontakt in diese graublauen Augen nicht abbrechen zu lassen. Dann geschah etwas sehr Unerwartetes.
Das französische Kunstmagazin Beaux Arts magazine hatte mich beauftragt, anläßlich seiner großen Ausstellung im Sommer 1994 im Museum Carré d’Art, Musée d’Art Contemporain, Nîmes , Sigmar Polke zu fotografieren.
Großer Vorbereitungen bedurfte es nicht, war er doch einer der Künstler die mich so stark faszinierten, das mir sein Werk mehr als vertraut war und noch heute einen Einfluss auf meine eigene Arbeit hat. Für mich hat keiner der Weltstars dieser Generation es so vehement vermocht zu provozieren, zu überraschen, Humor zu zeigen und dabei eine jeweils so vollendete Formsprache zu entwickeln.
Einen schöneren und spannenderen Auftrag konnte ich mir also kaum vorstellen. Sommer, Nimes, die Provence, die Stiere, ein wunderschönes Museum und Sigmar Polke. Dieses moderne Museum aus Glas und Stahl, gerade erst von Sir Norman Foster erbaut, lichtdurchflutet und in Bezug gesetzt zu dem gegenüber liegenden römischen Tempel, bot ein perfektes Ambiente für meinen Auftrag.
Polke war im Haus, umgeben von einer Entourage mir unbekannter Menschen. Immer im Arm eine Filmkamera, beaufsichtigte er die Hängung seiner Werke. Mit meiner Plattenkamera machte ich Aufnahme um Aufnahme, nicht wenige musste ich wiederholen, nachdem der Meister eine Umordnung seiner Arbeiten angeordnet hatte. Ich fotografierte die Arbeiten, die Räume, die Wände, die Gänge, die Entourage. Aber an ihn, um den es ging, kam ich nicht heran. Jeder Versuch, sich ihm zu nähern wurde unterbunden. Keine Zeit, vielleicht später, vielleicht auch gar nicht, wer sind Sie überhaupt, wozu soll das nötig sein, sie können doch die Räume fotografieren… Am ersten Abend suchten ich das Gespräch mit dem Direktor des Museums. Er war sehr aufgeregt, denn ihm war es ungeheuer wichtig, im bedeutendsten Kunstmagazin des Landes einen schönen Bericht über sein Museum lesen zu können. Aber machen konnte er offensichtlich nichts. Der nächste Tag verging wie der erste, und Polke war unnahbarer denn zuvor.
Frust und auch ein wenig Wut staute sich in mir auf. So ein arroganter Typ, dachte ich und beschloss, am nächsten Tag einen letzten Versuch zu starten. Alle wurden zunehmend nervöser ob meiner angekündigten Abreise und der Ankündigung, dann eben keine Fotos zur Verfügung zu stellen. In leicht aggressiver Lauerstellung stand ich da und wartete. Dann bog die Entourage um die Ecke und Polke vorneweg. Blitzartig ging ich auf ihn zu, streckte meine Hand aus und verstellte ihm den Weg. Er war groß, kräftig, hatte einen kleinen Bauch und sah mich, obwohl er einige Zentimeter kleiner war, etwas von oben herab an. Wir sahen uns in die Augen, seine leicht verborgen hinter einer halb getönten Brille, ich stellte mich kurz vor und spürte seine Hand in meiner. Da war sie, meine Chance und ich ergriff sie im wahrsten Sinne des Wortes. Nicht all zu fest war sein Händedruck und seine Hand lag ganz wunderbar in meiner. Ich drückte zu. Er hielt meinem Blick und dem Druck stand und ich drückte so fest ich konnte. Als ganz junger Mann habe ich mir manchmal mein Geld bei den Bauarbeitern in ihrer Kneipe mit Armdrücken verdient. Dann spürte ich einen heftigen Schmerz in den Zehen meines rechten Fußes. Auch ohne nach unten zu sehen konnte ich an dem leichten Grinsen in seinem Gesicht erkennen was geschehen war. Unvermittelt, heftig, präzise und mit voller Absicht hatte er mir mit dem Hacken seiner festen Schuhe auf den Fuß getreten.
Aus dem Grinsen wurde ein Lachen, erst verhalten, dann offen und frei. „Was willst Du von mir, soll ich etwa einen Striptease für dich machen?“ waren seine ersten Worte. Ich antwortete: „Das wäre toll!“ Er trat vor eine der riesigen Glaswände, die den Blick auf diese wunderschöne, so italienisch anmutende Stadt freigaben, oder fast selbst wie ein riesiges Gemälde wirkten, und begann, sein kurzärmeliges Hemd, dann sein Unterhemd auszuziehen und posierte mit freiem Oberkörper. Ich fotografierte los, obwohl mir klar war, dass das Gegenlicht in diesem Fall wohl wenig hilfreich sein würde. Die Anwesenden im Raum schienen ihren Augen nicht zu trauen. Sie hatten ja nichts von dem mitbekommen was sich zwischen uns abgespielt hatte. Innerhalb weniger Sekunden hatte sich diese Begegnung gewandelt. Ich konnte Polke den ganzen Tag begleiten. Es entstand eine Vielzahl von unterschiedlichen Aufnahmen, auch mit unterschiedlichen Kameras, mal beobachtend, mal inszeniert und einmal irgendwie dazwischen. Dieses Bild habe ich in schwarz/weiß und mit meiner kleinen Leica gemacht und es ist mir von allen das Liebste.
Später saßen wir beim Cafe und unterhielten uns. Er interessierte sich auch ein wenig für meine Arbeit, mehr jedoch für meine Kameras. Mit geübtem Griff nahm er sie in die Hand, ließ sich kurz einige Funktionen erklären und machte mehrere Aufnahmen von mir. Es gibt nicht sehr viele Bilder von mir und ich habe diese Fotos noch nie öffentlich gezeigt. Nach all den Jahren habe ich noch immer Herzklopfen, wenn ich an diese wunderbare Begegnung denke. Und bin auch ein kleines bisschen stolz darauf, dass eines der wenigen Porträts von mir von Sigmar Polke fotografiert wurde.
Ich flog nach Paris, direkt in die Redaktion, meine Filme wurden entwickelt und in der Ausgabe 09/94 des Beaux Arts magazine wurden die Bilder veröffentlicht. Leider befand sich die Zeitschrift offenbar bereits in finanziellen Schwierigkeiten und wurde später verkauft. Auf mein Honorar habe ich irgendwann aufgehört zu warten. Ich hatte ohnehin etwas bekommen, dass man mit Geld nicht bezahlen kann.