BILDER JEDENFALLS
Was bekommt man zu sehen? Es ist völlig unklar. Bilder jedenfalls. Bilder von überwältigender Eindringlichkeit, Bilder, die ihre Effekte unbekümmert herausstellen. Bilder, die von keiner je gemachten Begegnung oder Erinnerung zeugen. Bilder, die auf irgendeine Weise fotografisch erzeugt wurden, aber nichts Vorgefundenes „festhalten“ oder abbilden oder auch nur vorgeben, mit dem zu tun zu haben, was das Foto in seiner Geschichte zum „Repräsentationsmedium“ schlechthin gemacht hatte.
Ein Beispiel: Zwei gewaltige Elchbullen stoßen aufeinander, erstarrt in der Schärfe einer unwirklichen Nahsicht. Die mächtigen Schaufeln sind ebenso hart ausgeleuchtet wie das warme, erdbraune Fell dieser Muskelberge. Giganten in einer erschreckenden Detailtreue. Die eruptive Szene spielt in einer flachen, bühnenhaften Landschaft, die seltsam entfärbt ist und ins Schwarzweiß übergeht. Die Umgebung des Kampfmotivs ist von Elementen durchsetzt, die das Geschehen des Vordergrunds weder lokalisieren noch glaubwürdiger machen – Lichtgewitter, Steinflug, diagonale Bewegungen einer sphärischen Unruhe. Der Bildraum hat keine Tiefenrelation zu den Tierleibern. Er ist deutlich einem anderen Blickpunkt unterworfen, denn die Dringlichkeit des Vorzeigens wird theatralisch untermalt von etwas, das sich als reine Kulisse zu erkennen gibt. So scheinen die Elche wie in einem Diorama zu posieren, vor einer gemalten Urwelt, fein konturiert und collagenhaft abgetrennt von dem, was dem Geschehen seine Dramatik verleiht. Diese Künstlichkeit aber macht umso drängenderen Anspruch auf eine Wirklichkeitsverheißung. Der Schnitt zwischen den Bildebenen, die durchgehende Scharfstellung, die Gebrochenheit der Einfärbung lenken den Blick auf fast peinigende Weise immer wieder zum kolossalen Hauptmotiv zurück und damit auch auf die Frage, womit man es hier eigentlich zu tun hat.
Steigt man in die Assoziationsapparate heutiger Diskurspflege, dürfte einem manches dazu einfallen: Das Bild könnte ein ferner Nachhall aus einem Jagdstück des späten 19. Jahrhundert sein, irgendwas, das sich dem monumentalen Gründerzeitnaturalismus verdankt. Der Fotograf würde dann mit historischen Bildprogrammen der Malerei spielen und so die unvermeidliche Medienreflexion bedienen. Es wäre aber auch denkbar, dass der Künstler, weil er modern fühlt, die wilde Natur vorzeitlicher Urwälder vor Augen führen will, um mit dem immer noch „röhrenden Hirsch“ in kleinbürgerlichen Wohnstuben auch unsere Kulturvorstellung von „Natur“ zu parodieren. Er könnte nicht weniger plausibel einen hochgezogenen Anblick von Schauvitrinen beabsichtigt haben, um den Charme der Lehrmittelkabinette in Naturkundemuseen zu vergegenwärtigen und ihn zugleich ins Denkmalhafte zu heben. Überhaupt sind ja Museen heute überaus beliebte, also auch erfolgreiche Fotomotive, weil sie die dünne Membran zwischen kultureller Repräsentation, Rezeption, Geschichte und Bild zum Thema haben. Die Inszenierung von Wissen lässt sich ihrerseits kalt inszenieren und so von sich selbst entfernen. Der Blick in die Kunsttempel ergäbe dann das Genrebild einer subtilen Kulturkritik.
Es geht aber auch ohne das. Ludwig Rauch ist seit 30 Jahren Fotograf und hat in diesen Jahrzehnten alles gemacht: Reportagen, Porträts, Gebrauchsfotografie, Landschaften, Stilleben, konzeptionell angelegte Serien, freie Bildabstraktionen durch geschichtete Filmtableaus und Bildkompositionen in Leuchtkästen... Aus dem Material erwächst ein unfassbar reiches Fotoarchiv, das dem Bilddenken der analogen Schwarz-Weiß-Fotografie nicht weniger verpflichtet ist als den medialen Übergängen mit Polaroids und digitaler Fotografie – die Vergewisserung darüber eingeschlossen, was mit der Fotografie durch ihre Auflösung in Daten passiert: Grundfragen des Selbstverständnisses zwischen dokumentarischer Passion und künstlerischer Freiheit, die sich durch die gesamte Geschichte der Fotografie ziehen, zeichnen auch die Substanz dieses Archivs und beschäftigen den Fotografen bis in seine jüngste Produktion. Mit dem Übergang zur digitalen Fotografie zeigte sich allerdings auch, dass die Unterscheidung zwischen dem individuell aufgefassten „Abbild“ und der künstlerischen Konstruktion von fotografischen Bildern längst obsolet geworden ist, weil der dahinter verborgene Wirklichkeitsanspruch restlos fragwürdig wurde. Wirklichkeit kann seitdem als Bildwirklichkeit nur noch im Sinne der Konstruktion verstanden werden. Bernd Stiegler bringt das auf folgenden Punkt: „Indem die Fotografie zugleich zeigt, dass sie konstruiert ist, will sie uns im Wortsinn vor Augen führen, dass jede Wirklichkeitsansicht nur ein anderes Verfahren einer alles in allem analogen Konstruktion ist.“ 1) Diese fundamentale Verunsicherung des Begriffs von dem, was Fotografie überhaupt sei, hat ihr in dieser Logik den Zwang genommen, überhaupt etwas Reales zu spiegeln. Die einzige Wirklichkeit, die wir im Foto kennen, ist die Wirklichkeit des Fotos selbst. Und von hier bis zu dem Gedanken von Peter Lunenfeld: „Die Fotografie ist zugleich die Apotheose und Infragestellung der Realismusvorstellungen der Malerei“ 2), ist es dann nur noch ein kleiner Schritt. Er führt direkt zu den Elchbullen.
Indem Ludwig Rauch in sein Archiv greift, geraten „die vormals diskreten Elemente der Fotografie“ 3) zwangsläufig in eine binär organisierte grafische Umgebung. Was immer der Fotograf aus seinen Bildreservoiren herauszieht, es wird frei für eine programmgesteuerte Umarbeitung, die im System der Computergrafik das Umschreiben der Bilder bedeutet. Die Elche, irgendwo in der Welt aufgenommen, womöglich in einem Naturkundemuseum, werden dabei nicht einfach in ein anderes Bildfeld mit einem anderen Fotomotiv kompiliert, sondern wie in der Malerei schichtenweise übereinander transferiert. Die Daten der einen Sphäre benachbarn und vernetzen sich mit denen einer anderen, wobei es zu Überlagerungseffekten, Transparenzen und Überschneidungen kommt, die das Bild nach und nach mit sich selbst durchdringen. Helligkeit, Struktur, Farbmodulation, Schnitt, Einschub, Auslöschung schlagen in die gesamte Datenkonstellation durch. Jeder Vorgang ist reversibel, jedes Element austauschbar und in der Tendenz von immer dichter werdenden Zeichenkonglomeraten durchsetzt. Aus den einst gezielt vom Abbild her gedachten Fotografien wird ein offenes Spielfeld für Sequenzen von traumhafter Unwahrscheinlichkeit. Sie kümmern sich nicht im mindesten mehr darum, ob die entstehenden Bilder der Fotografie zugehören, gemalte Fotografie oder fotografierte Malerei sind, analog oder digital – das Ziel ist das schöne Bild, das umwerfende Bild, das nie gesehene Bild, eine Überwältigungsmöglichkeit, die sich um die alten Tabus, was welcher Art von Kunst erlaubt sei, nicht mehr kümmert. Die vollkommene Auflösung der Instanz des „Fotografischen“ der Fotografie, wie Bernd Stiegler das nannte, wird hier nicht bedauert, sondern in das Potential einer freien, phantastischen Verfügbarkeit gewendet. Die Rückbindung an das frühere Schaffen erfolgt dadurch, dass Rauch allein auf seine eigenen Fotografien zurückgreift, also sein konkretes Material sozusagen weiterführt und in eine andere Umgebung von Signalwerten versetzt. Die neuen Arbeiten gehen organisch aus dem Gesamtschaffen hervor und erreichen zugleich eine neue Dimension. Es ist, als ob sich die Bilder, als sie aufgerufen wurden, selbst noch nicht gekannt haben.
Das alles ist weit entfernt von den Photoshopmanipulationen, mit denen Verfremdungen, kosmetische Korrekturen, Collagen oder sonst zusammengebrachte Motive bestimmte Attraktionen für die Werbung herauskitzeln. Vielmehr denkt Rauch seine Bilder schöpferisch weiter, indem er seine Spielräume neu definiert. Es entstehen Tableaus, die von der Makrofotografie bis in die Weitwinkelperspektiven reichen, so aber auch die große und die kleine Welt in völlig neue Zusammenhänge bringen – betörend, verstörend und beispiellos in ihrer Art.
Michael Freitag
Anmerkungen
1) Bernd Stiegler: Fotografie im digitalen Zeitalter (Einleitung), in: Texte zur Theorie der Fotografie. Reclams Universal-Bibliothek, Stuttgart 2010, S. 342
2) Peter Lunenfeld: Digitale Fotografie. Das dubitative Bild. Ebenda, S. 347
3) ebenda, S. 352