Michael Freitag
Das Paradies. Es gibt die Menschheit erst, seit sie aus ihm vertrieben ist. Sie beginnt mit dem Sündenfall und sie wird enden, wenn sie ins Paradies zurückkehrt. Das ist die Verheißung, mit der die großen Religionen die Spielregeln vom richtigen Leben festlegen, um Gnade erreichbar zu machen. Davor stehen die Fährnisse der hiesigen Welt. Die ganze Breite zwischen Sünde, Reue, Läuterung und Tod und die Rätsel des Jenseits zwischen Fegefeuer, Auferstehung, Verdammnis und Hölle. Das Paradies ist, weil es den Tod gibt. Denn jeder will die Seligkeit und das ewige Leben, aber nicht alle werden sie bekommen, wenn sie auch könnten. Und keiner weiß, was die Ewigkeit oder ein Leben nach dem Tode sei. Vielleicht gibt es deshalb so viele gebrauchte Paradiese. Sie sollen im Diesseits einen Vorgeschmack auf die himmlischen Wonnen geben - Steuerparadiese, Gartenparadiese, Urlaubsparadiese, Paradiese für Kriminelle, für Spieler, für... Das alles sind Verlockungen und als solche Versuchungen. Sie suggerieren, angesichts der Ungewißheit eines Danach lieber schon jetzt sein Glück zu wagen, und daß es möglich sei. Ein bißchen schöner, ein bißchen reicher, ein bißchen berühmter, und man ist drin. Das „irdische“ Paradies ist immer Harmonie mit dem Vorherrschenden. Im Kunstbetrieb ist es auch so. In der Kunst nicht. Ihr Paradies ist dort, wo die Schönheit wohnt, auch dann, wenn man ihre Möglichkeit verneint. Schönheit ist so unerreichbar wie das Paradies und ihre Begriffe sind so wandelbar wie alles Wissen von ihm. Das Fehlen einer Gewißheit macht aus beidem ein Glaubensziel und regelt die Anstrengung. Zwangsläufig teilen sich auch die Kunstbetreiber in Zweifler, Gläubige, Ketzer, Missionare, Sekten, Orden und Kirchen. Also ist es kein Werbewitz, daß in Miami an der Front des Museums of Contemporary Art das Wort „Paradise“ in Leuchtschrift steht. Museen sind die Tempel der Schönheit und der Geschichte ihrer wechselvollen Verheißung. Kunstmessen sind die Börsen, an denen die Devotionalien gehandelt werden. Künstler sind die Propheten und Leugner dieser Glaubenswelt. Und die Art Basel Miami ist ein Ereignis, alles das auf den Punkt zu bringen: den Anspruch auf Ewigkeit (fürs Museum), die Filialen der Verheißung (die Galerien), die Verkündiger (die Künstler), die Gemeinden der Paradiessucher (das Publikum) und ihre Priester (die Kuratoren). Dazu Palmen, ewige Sonne, Edelsuiten und Luxusmenschen (Himmel und Engel), manchmal ein Hurrikan, damit alles noch schöner wieder neu erstehe.
Ludwig Rauch hat genau das fotografiert, Glanz und Glamour, Schick und Tristeß, Andrang und Verdrängen, Gnade und Gnadenlosigkeit – die Welt der Kunst als eine Kunstwelt, die für das Einlösen von Hoffnung ihre eigenen Spielregeln hat. Auch in sie wird nicht jeder zugelassen, selbst wenn man daran dreht. Geld, Erfolg oder Prominenz tun nichts zur Sache. Schließlich ist auch das irdische Paradies von dieser Welt, aber nicht in ihr. Es bleibt immer ein Vorspiel, eine Idee - wie das himmlische Paradies. Rauch zeigt die Schwelle, vor der das schmerzlich bewußt wird. Er zeigt den Tod, in dessen Angesicht allem, auch der Kunst, eine Grenze gesetzt ist. Angesichts des Sterbens wird die Frage der Schönheit endgültig zur Frage der Form, die ihre Würde ist, weil es schönes oder gelungenes Sterben nur als Kitsch gibt. Rauch zeigt noch mehr. Er zeigt auch die verlorenen Paradiese, in denen das Sehnen nach Glück und Erlösung kocht. Er zeigt das Chaos, die Vergänglichkeit, die Dynamik, das Pathos, die Melancholie und den Zauber der Städte, Venedig, Havanna, Tunis, Moskau... Und er zeigt Menschen, die diese Sehnsucht in sich tragen oder aufgegeben haben, Herausgehobene, Verborgene, Laute, Stille, Leute, Künstler und deren Interpreten. Dazu ein einzelnes Gesicht, das jeden dieser Räume zu kommentieren scheint, die menschliche Komödie in den Grimassen des Durchkommens und Ankommens.
Die Ausstellung versteht sich als ein Reigen von Bildern, die nichts bejahen oder verneinen. Sie schweigen eher. Sie bauen Grundmotive, sie betrachten Daseinsweisen, die jeder für sich unter den anderen bestimmt, um ein Leben zu haben, das diesmal schon eins war. Mehr kann man nicht wissen.